“Wir erinnern”, sagen wir in solchen Momenten. Stimmt dies? Erinnern WIR wirklich? Richtig ist: dieser Moment ist den Menschen gewidmet, die in Luxemburg Widerstand gegen die Besatzung durch Deutschlands Truppen und eine grausame Zivilverwaltung geleistet haben. Meist waren es junge Menschen, die in ihrem Heimatland Luxemburg in Freiheit leben wollten. Ihre Mittel waren begrenzt: Worte, Flugblätter, Plakate, Streiks, sie waren Zivilisten und keine Soldaten. Wohl kaum einer von ihnen glaubte daran, dass man mit Tinte und Papier das Hitler-Regime stürzen konnte, aber fast alle wollten trotzdem etwas tun. So gering ihre Mittel und damit auch der Aussicht auf Erfolg war, so sehr waren sie überzeugt, dass sie nicht NICHTS tun konnten, dass sie nicht nur reden, sondern auch handeln mussten. Der Mut zu diesem Handeln fiel aber nicht vom Himmel, sondern musste erst einmal wachsen, brauchte einen guten Boden, musste gedeihen und gepflegt werden. So dass aus der Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit das mutige Eintreten für die Freiheit einer Nation erwuchs. Dafür braucht es Vorbilder, in der Familie, Freunde und Lehrer in der Schule, Inspiration durch Bücher, Poesie, Musik, Literaten, Gebote der Religionen, Fragen der Philosophie. Der Widerstand zeigt, wo Kultur und Werte in Familie und Gesellschaft gelebt und weitergegeben werden, da wächst die Sehnsucht nach Freiheit, erst ist es nur ein Gefühl, ein Gedanke, dann ein Wort, und das Wort wird zur Tat, und dann die Tat – die brachte den Jungen Leid und Tod. Im Ganzen eine ungerechte Entwicklung, eine Gleichung, die nicht wirklich aufgeht. Die Widerständler wollten mit Sicherheit nicht als Helden sterben, sondern in Freiheit leben. Sie wollten die Schreckensherrschaft der Nazis nicht mit Schweigen adeln, sondern aktiv für Menschenrechte und Freiheit kämpfen. Sie konnten die ersehnte Freiheit nicht mehr erleben, sondern wurden ermordet – und wir?
Wir leben heute in der Freiheit, die sie damals eingefordert haben, für die sie gekämpft haben und für die sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Und wir bekommen eine Ahnung davon, in wessen Schuld, besser gesagt in welcher Verantwortung wir damit stehen. Denn es liegt an uns, ob der Tod dieser jungen Menschen mehr ist, als eine weitere ungerechte Gleichung in der Geschichte der Menschheit, oder ob wir uns von diesen jungen Menschen etwas sagen lassen, eine Botschaft, die in die Zukunft weist und deutlich macht, dass der Tod und die Mörder nicht das letzte Wort haben. Diese Botschaft verstehen wir besser, wenn wir die gewohnten Rollen beim Erinnern für einmal vertauschen. Deswegen müssen wir heute sagen:
Nicht WIR sind es, die sich heute an 23 ermordete Menschen erinnern, nein es ist umgekehrt, die Ermordeten erinnern UNS daran, was wichtig ist im Leben. Wofür es sich lohnt zu leben, und womöglich auch mit seinem Leben einzutreten. Sie erinnern uns an ihre Überzeugungen und Werte, für die sie sich im Widerstand aktiv einsetzten, und wir werden damit auch erinnert an ihre Lehrer, ihre Familien und Freunde, an die stillen Unterstützer, an alle, die den jungen Leuten halfen, Werte und Überzeugungen zu entwickeln, die es ihnen ermöglicht haben, Widerstand zu leisten und mit Mut für die Freiheit ihres Landes und ihrer Mitmenschen einzustehen.
Wir wollen in diesem Augenblick Gott danken für die Freiheit, in der wir leben dürfen, und darum bitten, dass er den Toten seinen Frieden gebe, aber wir wollen auch darum bitten, dass Gott unser Gedächtnis stärke, damit wir das Opfer und die Werte der Widerständler nicht vergessen, und dass Gott uns auf guten Wegen führe, damit wir unseren Kindern und der Jugend in diesem Lande Vorbilder und Lehrer werden, die glaubwürdig von ihrer Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sprechen, und Menschen, die ihren Worten auch Taten folgen lassen. Amen
Einführung und Gebet anlässlich der Feierstunde am Hinzerter Kreuz am 28. Februar 2021 im Rahmen des nationalen Gedenktages des Widerstands, bzw. des 77. Jahrestages der Ermordung von 23 Luxemburgern des Widerstands, die am 25. Februar 1944 im SS-Sonderlager/KZ Hinzert hingerichtet wurden.